Wim Wenders: "Weg wollte ich schon immer" (2024)

Aus der Serie: Meine Schule des Lebens

Der Regisseur über seine frühen Sehnsuchtsorte, die Lehrzeit bei einem Pariser Kupferstecher und seine Liebe zu Niemandsländern

Interview: Hella Kemper und Katja Nicodemus

Aus der ZEIT Nr.41/2023

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In unserer Gesprächsreihe " Meine Schule des Lebens " erzählen prominente Menschen von ihrem Bildungsweg.

DIE ZEIT: Herr Wenders, Ihr neuer Spielfilm Perfect Days handelt von einem Mann, der in Tokio auf geradezu meditative Weise Toiletten putzt. Was ist für Sie ein perfekter Tag?

Wim Wenders: An einem perfekten Tag ist man ganz bei sich. Man schadet niemandem und wird auch von niemandem behelligt. Das ist natürlich einfacher, wenn man, so wie ich, oft draußen auf dem Land weilt. In der Stadt ist das schwieriger...

ZEIT: Sie sind in Städten aufgewachsen, in Düsseldorf und Oberhausen.

Wenders: Ich bin mitten in Düsseldorf auf der Kaiserswerther Straße groß geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war von der Stadt nicht mehr viel übrig. Zerstörte Straßen und Häuserruinen waren meine ersten Kindheitseindrücke. Aber es gab den Rhein, der war gewaltig und schön. Mit fünf oder sechs war ich zum ersten Mal überhaupt auf dem Land. Später sind meine Eltern mit meinem Bruder und mir immer in den Schwarzwald gefahren. Das war nicht mein Ding. Immer nur diese Tannen, entsetzlich, man konnte nichts sehen außer Wald, keinen Horizont. Und man wurde von Mücken zerstochen. Ich wollte zurück in die Stadt.

ZEIT: Als Ihr Vater, ein Chirurg, Chefarzt in Oberhausen wurde, ist die Familie umgezogen.

Wenders: Ja, das Ruhrgebiet war erst mal heftig. Die Luft war unzumutbar. Der Himmel verfärbte sich abends gelb, und wenn man bei offenem Fenster gelesen hat, musste man bei jedem Umblättern den Staub von den Seiten pusten. Das habe ich später auch noch woanders gemacht, aus reiner Gewohnheit. Was ich gemerkt habe: Das Ruhrgebiet war eine Utopie in Deutschland.

ZEIT: Was meinen Sie damit?

Wenders: Das Ruhrgebiet war ein melting pot, lange bevor man hier das Wort kannte. Die Polen waren schon ewig da, in den Fünfzigerjahren kamen Italiener, Griechen, Türken und Jugoslawen dazu. Die Leute im Pott haben Fremde immer willkommen geheißen, hatten Humor und eine große Gelassenheit und waren nicht so nationalversessen. Das Ruhrgebiet ist vielleicht die menschenfreundlichste Gegend in Deutschland.

ZEIT: Warum hat es Sie dennoch so früh in die Ferne und nach Amerika gezogen?

Wenders: Na ja, weg wollte ich schon immer. Seitdem ich Bilder von anderen Orten und Ländern gesehen hatte. Ich habe wie besessen Fotos aus der Rheinischen Post meines Vaters ausgeschnitten, gesammelt und an die Wand gepinnt. Ich war geradezu bildersüchtig. Auch aus dem Großen Brockhaus habe ich schon als kleiner Junge die Fotos von Städten rausgeholt und ihn regelrecht geplündert, inklusive der Landkarten, wenn es welche gab.

ZEIT: Was war auf den Bildern zu sehen?

Wenders: Großstädte! "Wolkenkratzer", was war das für ein tolles Wort! New York, Chicago, aber auch London, Rom, Paris, Städte, die nicht wie die deutschen vom Krieg zerstört worden waren. Oder Brasília, das war mein großer Traum! Mit den Fotos dieser Stadt, die da gerade aus dem Nichts im Urwald entstand, war eine ganze Wand beklebt. Oscar Niemeyer war der erste Architekt, den ich beim Namen kannte. Was es zu sehen gab, auf all diesen Fotos, das waren alles Sehnsuchtsorte, da wollte ich hin!

ZEIT: Ging es um die weite oder um eine heile Welt, die Sie auf den Bildern gesucht haben?

Wenders: Mir ging’s um die weite Welt, von einer heilen wusste ich noch nicht. Dass die unsere unheil war, diese Einsicht kam dann noch früh genug. Ich erinnere mich an einen Schlager, den meine Mutter immer mitgesungen hat oder mitgepfiffen, was sie gut konnte. Das Lied hieß Morgen und war von Ivo Robic, einem Jugoslawen, heute Kroaten. So fing es an: "Morgen, morgen, lacht uns wieder das Glück. Gestern, gestern, liegt schon so weit zurück..." Ich kann das immer noch auswendig.

ZEIT: Stimmt es, dass Sie als Kind gern ins Kunstmuseum gegangen sind?

Wenders: Ja, durchaus. Ich wollte einfach Landschaften sehen. Ich habe mich gern mit Bildern beschäftigt, auf denen ein Horizont zu sehen war. Die fand ich toll. Bei den holländischen Landschaftsmalern gab es so viel Horizont, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Ich mag seitdem flache Landschaften gern, so wie in den Niederlanden oder in Frankreich, die Gebirge waren nie mein Ding. Wüsten mochte ich immer am liebsten. Und natürlich Städte. Aus irgendeinem Grund waren mir in Berlin die Niemandsländer lieb, vielleicht weil sie mit den Wüsten was gemein hatten.

Wim Wenders: "Weg wollte ich schon immer" (2024)
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